Da ist er nun der Sommer, den sich so viele herbeitgewünscht haben und jetzt einige schon wieder, jedes Jahr aufs Neue, verteufeln. Ich habe da ehrlich gesagt gemischte Gefühle, nicht zuletzt deswegen, weil diese unglaubliche heiße und teilweise unerträgliche Feinstaubmetropole ein Sinnbild unserer schwer vernachlässigten Umwelt und damit klares Zeichen des Klimawandels ist. Wir haben jetzt schon Temperaturen hier wie in Ägypten, sagte letztens eine Kollege zu mir und was soll ich sagen, er hat nicht nur recht, sondern hier gibt es auch kein Meer, maximal einen Feuersee. 🙁 Nichts desto trotz bin ich Südländer, liebe die Hitze und komme, wenn es denn zumindest nachts abkühlen würde, ganz gut zurecht.

Daher wollte ich eigentlich über die grandiose Idee unsererseits schreiben, dass wir gestern einen Schrank bei meinem Schwager nicht nur zerlegt, abgeholt, bei der Hitze in der vierten Stock gewuchtet und dann auch noch aufgebaut haben und mit welchen Strapazen das verbunden war, aber ich habe mich anders entschieden.

Nach einem sehr interessanten und bewegenden Beitrag von Dr Mark Benecke in dem es um vereinsamte und leider unter anderem dadurch auch tot aufgefundene Menschen ging, habe ich mich kurzer Hand umentschieden. Und nicht zuletzt, weil ich so viele im Freundeskreis habe, die leider nicht mehr die Möglichkeit haben mit ihren Vätern/Müttern/Eltern zu sprechen, muss ich jetzt einfach, nicht „nur“ bunt, sondern eben auch laut sein.

Der folgende Text ist eine Email, die ich heute an meinen Vater geschrieben habe, weil ich mir anders nicht mehr zu helfen weiß und ich das Schreiben einmal mehr als Therapie verstehe.

Triggerwarnung: er ist sehr persönlich und könnte bei dem ein oder anderen vielleicht bestimmte (ungewollte) Emotionen hervorrufen. Aber ich denke, dass er einfach auch publiziert gehört. Wenn ihr Fragen, Kritik oder/und anderweitig Anmerkungen habt, kommt gerne auf mich zu oder/und nutzt die Kommentarfunktion.

„Hallo Dad,

schön von dir zu hören/lesen, das macht mir den „ersten“ Schritt etwas leichter. Ach man, ich weiß gar nicht so genau wo ich anfangen soll. Es ist komplett absurd. Ich wünsch‘ mir unbedingt wieder mehr Kontakt mit dir und würde mich soooo freuen, wenn auch die Lütte mehr von ihrem einzigen Opa hätte, aber irgendwie entfernen wir uns immer mehr. Ich kann dir nicht genau sagen woran das liegt bzw. ich bin mir nicht sicher, ob du das verstehst. Aber du warst, bist und bleibst mir/uns extrem wichtig, daran wir sich auch nichts ändern. Schon schade genug, dass es den anderen Opa nicht mehr gibt. 🙁

Daher ist es es auf jeden Fall wert, dass ich zumindest versuche dir zu erklären und per Mail/Text fällt mir das mal wieder deutlich leichter als im persönlichen Gespräch. Das ist nicht optimal, aber ein weiterer Versuch sich wieder anzunähern. Ich habe die Mail bereits am Donnerstagabend angefangen zu schreiben. Ich hatte das an dem Abend ohnehin vor, weil Laura im Goldmark’s ausgeholfen hat und ich das schon eine ganze Weile vor mir herschiebe, aber ich habe es nur bedingt geschafft meine Gedanken zu sortieren und diese dann auch zu verschriftlichen. Daher knüpfe ich heute daran an und hoffe, dass es mir trotz der unerträglichen Hitze schon um halb zehn, diesemal besser gelingt.

Zunächst das Wichtigste, ich habe dich nicht vergessen und das seltene Melden soll ganz bestimmt KEINE Bestrafung sein, ganz im Gegenteil, denn es bricht mir das Herz. Ich bin in Gedanken sehr oft bei dir und möchte einfach nur zum Hörer greifen, um zumindest mal deine Stimme zu hören und zu wissen, dass es dir, den Umständen entsprechend, gut geht, aber ich schaffe es nicht. Ich schiebe es Ewigkeiten auf und es kostet mich extrem viel Überwindung. Einer der Gründe dafür ist, dass ich mir, wenn wir schon miteinander sprechen, dann auch die Zeit nehmen möchte, um nicht nur den klassischen Smalltalk auszutauschen, denn das sind wir beide nicht. Im Idealfall ist dann natürlich auch direkt die Lütte dabei, damit sie mal wieder ihren geliebten Opa sieht oder zumindest hört und dann hätte ich natürlich auch noch gern den Kopf frei, um mich bewusst dem Gespräch widmen zu können und zu vermeiden, dass meine Gedanken z. B. wegen der Arbeit immer wieder abschweifen. Eine Kombination, die sehr rar geworden ist und die es leider auch nur selten gibt. Und auch wenn mir vollkommen bewusst ist, dass das kein Hinterungsgrund sein darf/sollte, gestaltet es sich aber leider in der Realität so. Ich versuche da wirklich immer wieder über meinen Schatten zu springen und vielleicht fehlt mir auch einfach auch „nur“ das letzte Fünkchen Mut, aber faktisch melde ich mich nicht, was sicherlich nicht nur mir weh tut. Dafür möchte ich mich hiermit entschuldigen, denn das hast du nicht verdient. Aber es ist auch nicht der einzige Grund.

Über den anderen Grund zu sprechen fällt mir gar nicht leicht, weil der sehr persönlich ist und ich mir nicht sicher bin wie du ihn aufnehmen wirst, aber ich muss das einfach mal loswerden. Nur so hast du ja auch die Möglichkeit darauf zu reagieren und vielleicht beendet das auch wilde Spekulationen. Da wir eigentlich immer sehr offen und ehrlich miteinander gesprochen haben, hoffe ich, dass wir das hier zum Anlass nehmen können, um uns dazu auch mal persönlich auszutauschen. Kurz zusammengefasst, ich weiß nicht wie ich mit der aktuellen Situation umgehen soll. Aber es ist sehr viel komplexer, hat viel mit persönlichen Befindlichkeiten und unseren Charakteren zu tun und das macht das Ganze erheblich schwerer. Die Situation, dass du als „einsamer Wolf“ am anderen Ende von Deutschland dein Dasein fristest, immer mehr körperlich abbaust, in meiner Wahrnehmung sogar teilweise verwahrlost, leider auch extrem sozial vereinsamst und es dich immer mehr Mühe kostet deinen Alltag zu bestreiten, macht mich fertig. Neben der Tatsache, dass die Lütte leider nur sehr punktuell was von ihrem einzigen verbliebenen Opa hat, vermisse ich meinen Vater und den (regelmäßigen) Austausch mit dir extrem.

Jetzt könnte man sagen, dann liegt die Lösung doch auf der Hand und vermutlich tut sie das auch, wir müssen/sollten einfach wieder mehr Kontakt miteinander haben. Denn wir haben keinen Streit, sind in vielen Punkten, nach wie vor, auf der gleichen Wellenlänge, du liebst deine Enkelin und sie dich, aber da steht was im Weg, Hilflosigkeit meinerseits. Es ist nicht nur diese Suche nach Lösungen, sondern eine regelrechte Ohnmacht. Ich wurde schon so oft gefragt, warum du dir das antust, dort so völlig allein zu leben und ich habe das immer damit begründet, dass du dich dort wohlfühlst, du schon immer zurück ans Meer wolltest, damals schon bei der Marine warst, obwohl du ihn Süddeutschland gelebt hast und, dass das auch so eine Art romatische Wunschvorstellung eines „alten Seebären“ ist. Doch mittlerweile glaube ich da selbst nicht mehr daran, schaffe auch nicht mehr mir das schön zu reden und muss immer mehr realisieren, dass die Wahrheit dieser romantischen Männervorstellung erneut richtig ordentlich in die Fresse tritt.

Ich möchte nicht darüber urteilen wie es dir wirklich geht, zum einen wäre/ist das eindeutig anmaßend und zum anderen weiß ich es schlichtweg nicht, weil du auch nicht viel darüber preisgibst. Folglich handelt es sich hier um eine subjektive Wahrnehmung meinerseits. Und das auch nicht als Momentaufnahme, sondern auf Erfahrungen und vielen Situationen der letzten Jahre beruhend. Du selbst hast jetzt schon diverse Male geschildert, vorwiegend wenn du Geschichten aus alten Tagen z.B. in deiner damaligen Firma berichtest, dass da die Bilder immer mehr verschwimmen. Dass du manchmal nicht mehr weißt, ob das wirklich so passiert ist, weil das jetzige Leben ein komplett anderes und so fern davon ist. Und auch wenn ich deutlich jünger bin, kenne ich die Situation und das damit verbundene Gefühl durchaus. Je nachdem in welche Richtung man selbst und das zugehörige Leben sich verändert hat, ist es ein positives und motivierendes oder eben ein sehr trauriges und vor allem wehmütiges. In deinem Fall, vermutlich eher Zweiteres.

Und das Schlimme daran ist, ich kann dir das nicht abnehmen. Vermutlich ist das auch gar nicht meine Aufgabe, aber ich würde es so gern und das macht es mir so schwer. Ich habe schon immer anderen Menschen geholfen, habe ein regelrechtes Helfersyndrom, und bei dem einen oder anderen hat das auch funktioniert, aber bei meinem eigenen Vater, weiß ich drei wesentliche Dinge nicht.

Fangen wir damit an, ob du dir überhaupt helfen lassen möchtest/würdest. Ich kenne dich lange und ich kenne dich gut, meiner Meinung nach sogar sehr gut und du warst, bist und bleibst ein sturer Bock, Stichwort Patientenverfügung. Das bin ich auch und sogar Matilda kann das nicht mehr von sich weisen. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, erst recht nicht bei Holzmännern oder/und Holzfrauen. Sprich, ich bin mir relativ sicher, dass du, trotz deiner durchaus vorhandenen Selbstreflexion, keine Hilfe annehmen würdest. Diese ist aber, nicht nur meiner Meinung nach, mittlerweile unbedingt erforderlich, weil du da alleine nicht (mehr) rauskommen wirst. Punkt zwei knüpft eigentlich direkt daran an, da du dir von mir/uns nicht helfen lässt, kommt auch keine wirklich fremde Hilfe in Betracht, Stichwort Haushaltshilfe, Therapie, betreutes Wohnen. Da hatten wir ja schon Ansätze und ich erachte es auch nach wie vor als nötig, aber dafür musst du dir einfach helfen lassen. Und dann der dritte und letzte Punkt, der aber diverse Konsequenzen mit sich bringt, die räumliche Distanz. Wir wohnen mindestens 6 Stunden Autofahrzeit auseinander, da fährt man nicht mal einfach eben zu Kaffee und Kuchen rüber. Wobei ich das schon machen würde, aber nur dann, wenn wir dann auch die nötige Zeit hätten, um auch wichtige Dinge zu besprechen/klären. Das macht die Tatsache, dass ich nicht weiß wo ich anfangen soll, nicht nur nicht leichter, sondern erheblich schwerer.

Ich bin mittlerweile 46 Jahre alt und würde behaupten, dass ich, mit allen Hochs und Tiefs, mein Leben ganz gut auf die Kette bekomme, aber wenn ich mit so einer Situation in Berührung komme, dann fühle ich mich wie Matilda jetzt und würde mir einfach wünschen, dass mich jemand in den Arm nimmt, so wie du das früher auch getan hast, mich tröstet, Mut zuspricht und mir Glauben schenkt, dass das alles nicht so schlimm ist/wird. Doch dann trifft diesen naiven, bunten und lauten Träumer einmal mehr die geballte Faust der Realität mitten ins Gesicht und mir wird klar, dass mir/uns die Zeit davonrennt. Schon vor Jahren hast du dich von mir verabschiedet, als könnte es unser letztes persönliches Treffen gewesen sein und da bin ich noch alleine ins Auto gestiegen und heulend und mit lauter Musik den langen Weg Richtung Süden gefahren. Glücklicher Weise, sind danach noch einige Treffen gefolgt und du hast sogar ein paar Mal den mühevollen Weg aus dem hohen Norden auf dich genommen, um zum Beispiel unserer Hochzeit und Geburtstagen von der Lütten beiwohnen zu können, was ich sehr zu schätzen weiß. Denn auch wenn es für dich früher zum Alltag gehörte, dich mit dieser rasanten und selbst mich überfordernden Feinstaubmetropole und allem was dazu gehört auseinanderzusetzen und du ja sogar schon im Iran, in Berlin oder/und Paris gearbeitet/-wohnt hast, war dir deutlich anzumerken wie sehr dich das schlaucht, welche Überwindung es dich gekostet hat und für dich schon klar, dass das vermutlich das letzte Mal ist.

Eigentlich ist das sogar ein gutes Symbolbild für die Situation, denn dieser kräftige Fels in der Brandung, der jahrelang mitten im pulsierenden Zentrum stand und vielen um ihn rum Halt gegeben hat, wünscht sich jetzt vermutlich, als kleiner bescheidener und geschliffener Kieselstein am Wasser einfach nur seine Ruhe und dem plätschernden Bächlein zu lauschen, weil auch er mit der Situation überfordert und müde ist, oder interpretiere ich das falsch?

Fakt ist und da hilft alles nix, dass wir die Zeit nutzen müssen, die uns noch bleibt und die wir, im Gegensatz zu vielen anderen auch noch haben. Du bist nicht allein, du hast noch vereinzelt treue Freunde, einen Sohn, eine Schwiegertochter und nicht zu zuletzt eine Enkelin. Wir sollten die Zeit also nutzen, um wieder aufeinander zuzugehen und uns gegenseitig am Leben teilhaben zu lassen. Dazu gehört eine ordentliche Portion Mut, das ist mir durchaus bewusst, um nicht nur über den eigenen Schatten zu springen, sondern auch, um sich dem Gegenüber emotional zu öffnen. Glücklicher Weise wurde ich nie dazu erzogen, dass ein Mann immer stark sein muss und keine Gefühle zeigen darf. Und das habe ich auch von dir größtenteils so vorgelebt bekommen, aber dann sollten wir uns auch so verhalten und offen und ehrlich miteinander umgehen, bitte.

Dein Sohnemann

PS: Ich hoffe du verstehst meine Zeilen richtigt und ich würde mich sehr freuen, wenn wir das wieder, zumindest ein wenig besser, auf die Reihe bekämen, in dem Sinne.“

eure ma.de